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Die Extropie lebender Systeme oder: Das Lob der Hausfrau
von
Rudi Zimmerman
Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass aus dem Universum keine Energie oder Wärme entweicht und keine von außen hinzukommt. Die im Universum enthaltene Energie bleibt konstant, kann sich jedoch von einer Form der Energiespeicherung in eine andere umwandeln. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt in seiner wahrscheinlichkeitstheoretischen Formulierung, dass sich die Moleküle des Universums im Lauf der Zeit gleichmäßig verteilen. Grund dafür ist die Eigenbewegung der Moleküle. Diese Eigenbewegung kann von einem Beobachter als Wärme einer Molekülansammlung, egal, ob in festem, flüssigen oder gasförmigem Aggregatzustand, gemessen werden. Wärme breitet sich nur in einer Richtung aus, nämlich vom Warmen zum Kalten. Der Zustand maximaler Unordnung als Endzustand der Molekularbewegung des Universums entspräche der Durchschnittstemperatur, einem Zustand gleichmäßiger Verteilung der Wärme, in dem Wärme nicht mehr fließen kann. Bis dahin nimmt die Unordnung insgesamt ständig zu, Wärme fließt bis zu diesem Endzustand vom Warmen zum Kalten, was als Entropie bzw. Entropiezunahme bezeichnet wird. Physiker sind sich einig, dass dieser Satz der ständigen Zunahme der Entropie in einem geschlossenen, benauer: einem isolierten, System gilt.
Ich wende nur ein, dass es neben der Bewegung der Moleküle auch andere Bewegungen gibt, nämlich die Bewegungen lebender Materie. Bei lebender Materie handelt es sich um eine organisierte Ansammlungen sehr vieler Moleküle, die ein System bilden. Im Gegensatz zu toten Objekten (aus der Sicht des Betrachters), also Systemen von Molekülmassen, die sich lediglich gleichförmig bewegen, also die Richtung ihrer Bewegung oder deren Geschwindigkeit nur dann ändern, wenn eine äußere Kraft auf sie einwirkt, können sich Objekte lebender materieller Systeme aktiv bewegen, sie können aufgrund innerer Kräfte ihre Bewegungsrichtung oder die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen jederzeit ändern. Sie können aber nicht nur das. Sie wachsen auch. Sie beginnen ihren Zustand des Lebens als Einzeller und vermehren die Zellzahl bis zum Erwachsenenalter ständig, danach behalten sie einen Zustand von Homöostase bei, in dem sie sich ständig die Energie und die Materie, sie sie verbrauchen, wieder zuführen. Dieses Wachstum, das nach Erreichen des Erwachsenenalters vom Beobachter nicht mehr sichtbar ist, weil es nur noch den ständigen Verbrauch von Energie und den ständigen Verlust von Materie ersetzt, ist ebenfalls eine Bewegung, nämlich die ständige Wachstumsbewegung lebender Systeme. Diese findet nicht in einer Ortsveränderung statt, sondern in der Vereinnahmung von immer mehr Raum. Diese Wachstumsbewegung lebender Materie, die bei sich nicht fortbewegenden lebenden Systemen, den Pflanzen, besonders gut zu beobachten ist, betrifft nicht nur die sogenannten Individuen, die an Größe zunehmen, sondern sie betrifft auch die sogenannten Arten, deren Masse in der Regel auch ständig zunimmt, nämlich durch die Vermehrung der Zahl der Individuen. Es wächst nämlich nicht nur das Individuum, sondern auch die Art wächst ständig. Diese Wachstumsbewegung wird jedoch unter anderem von anderen Arten begrenzt, die derartige Arten (z.B. Pflanzen) als Nahrung verwenden. So bleibt das Wachstum vieler Arten dadurch unsichtbar, dass es von der Reduzierung durch Fressarten begrenzt wird.
Die Kraft, die das ständige Wachstum der Individuen und der Arten bewirkt, und die sich bezüglich des Wachstums der Art in den Individuen als Sexualtrieb bemerkbar macht, nenne ich "Selbstentfaltung"
Betrachtet man die Summe dieser lebenden Systeme auf dem Planeten Erde, also die Gesamtmasse lebender Materie, so ist diese im Verlauf der Erdgeschichte Wechseln unterworfen. Lebende Materie benötigt nämlich zu ihrer Wachstumsbewegung der Individuen und Arten und zur Fortbewegung der Individuen, die über Fortbewegungsorgane verfügen, Energie und nichtlebende Materie. Kann diese aufgrund von Änderungen der äußeren Bedingungen (aus Sicht der lebenden Materie) nicht mehr erwirtschaftet werden (z.B. infolge von Umweltkatastrophen), so reduziert sich lebende Materie um die Individuen, die nicht mehr genügend Energie und Materie zuführen können. Diesen Aufwand zum Erwirtschaften von Materie und Energie zum Überleben von Individuen zur Aufrechterhaltung ihrer Homöostase, der ja Energie und Materie verbracht, nenne ich "Selbsterhaltung". Die Gesamtmasse lebender Materie hat also im Lauf der Zeit immer wieder abgenommen, insgesamt ist jedoch eine Zunahme zu beobachten. Was jedoch wichtiger ist als die Mengenzunahme der Individuenzahl oder die Gesamtmasse lebender Materie, ist die Zunahme der Komplexität dieser Materie. Je länger die sogenannte Evolution voranschritt, desto komplexer wurden die lebenden Systeme, die im Verlauf der Evolution hervorgebracht wurden. Der Mensch ist also als letzte Hervorbringung der Evolution das komplexeste lebende System. Komplexität ist das Maß der Kompliziertheit der Zusammensetzung der lebenden Materie. Je komplizierter die Materie zusammengesetzt ist, desto unwahrscheinlicher ist die Verteilung der in ihr vorhandenen Atome/Moleküle. Komplexität ist also ein Maß für die Unwahrscheinlichkeit der Verteilung von Atomen/Molekülen in einem System von Atomen/Molekülen. Komplexität ist also das Gegenteil von Entropie, oft wurde dies Negentropie bezeichnet. Max More und Tom Morrow prägten hierfür den eingängigen Begriff Extropie, den ich von ihnen übernehme. Den Zustand "Leben" könnten Mathematiker wahrscheinlich an einem bestimmten Maß von Extropie innerhalb eines Systems von Molekülen feststellen. Dies würde natürlich nichts über das Wie der komplizierten Materiezusammensetzung aussagen. Lebende Materie ist sicher nicht zu irgendeinem Zeitpunkt der Schöpfung von einem Designer oder Gott zusammengesetzt worden, wie viele Menschen glauben, sondern sie ist im Verlauf der Evolution gewachsen und sie wächst immer wieder neu in jedem Individuum aufgrund eines in seinen Chromosomen gespeicherten Plans. Und insgesamt nimmt die Komplexität (Extropie) dieser lebenden Systeme immer mehr zu und wird weiterhin zunehmen.
Obwohl im Universum die Entropie zunimmt, nimmt gleichzeitig auch die Extropie (die Komplexität) von Materie zu, die sich in begrenzten und offenen Materiesystemen organisiert. Ein lebendes System der Größenordnung Individuum, wie es jeder von sich selbst kennt, ist nämlich einerseits begrenzt. Das bedeutet, es ist ein Innen von einem Außen abgegrenzt. Es gehört Materie dazu, der Rest der Materie des Universums gehört nicht dazu. Gleichzeitig jedoch besteht ein ständiger Materieaustausch zwischen dem Innen und dem Außen, so dass derartige Systeme im Gegensatz zu nichtlebender Materie offen sind. Lebende Systeme sind also begrenzt und offen. Sie haben offene Grenzen.
Innerhalb dieser offenen Grenzen erhöhen sie die Komplexität ihrer materiellen Zusammensetzung im Lauf der Zeit. Es ist also neben der Wachstumsbewegung auch eine Bewegung in Richtung Extropie zu verzeichnen.
Und nun nach dieser Vorrede zum Lob der Hausfrau.
Die Hausfrau als solche und besonders in ihrer deutschen Erscheinungsform erkennt die Entropiezunahme des Universums am Ausmaß der Staubansammlung und der Unordnung innerhalb der Behausung, die sie mit ihrer Familie zusammen nutzt und sieht ihre Aufgabe unter anderem darin, dieser Entropiezunahme entgegenzuwirken. Sie ist sich vermutlich nicht dessen bewusst, dass diese Putzarbeit und das immer wieder Neuerschaffen von Ordnung ein Teil der Extropiearbeit allen Lebens ist. Dies zeigt aber auch, dass das lebende System der Größenordnung Individuum nicht an seiner Haut aufhört. Auch die Kleidung, die immer wieder gewaschen wird und die Wohnung, die immer wieder geputzt wird, gehört zum Menschen. Und nicht nur das. Im Grunde gehören auch die körperexternen Fortbewegungsmittel, wie das Fahrrad oder das Auto zum Menschen. Sein Besitz und sein Geld gehört zum Menschen ebenso wie seine inneren Organe. Hans Hass1 hat diese daher als die zusätzlichen Organe des Menschen bezeichnet. Aus diesem Grund spreche ich auch nicht mehr von dem Menschen, sondern von dem System Mensch. Im Unterschied zum lebenden System Pflanze und zu vielen lebenden Systemen Tier besteht der Mensch nicht nur aus lebender Materie, sondern seine nichtlebende Materie, die Produkt menschlicher Arbeitstätigkeit ist, gehört zu ihm. Rechnet man diese körperexterne Materie zum System Mensch hinzu, erhält man einen Eindruck von der wahren Größe und wahren Komplexität des Systems Mensch.
Rudi Zimmerman
1) Hass, Hans (1994): Die Hyperzeller. Das neue Menschenbild der Evolution. Carlsen. Hamburg. ISBN 3551850178 |